Samstag, 9. Dezember 2023

Kognitive Funktionen, Theismus und Transzendenz

 

 

1. Die fehlgeleitete extravertierte Intuition


Wie heißt die meistbenutzte Suchmaschine auf der Welt, dies- und jenseits des Internets? Extravertierte Intuition (Ne). Extravertierte Sinnlichkeit empfängt, introvertierte Sinnlichkeit sammelt (und ordnet?*) Sinnesdaten. Extravertierte Intuition sucht nach Zusammenhängen, wild, chaotisch, wie sie kommen, das Neue und Sensationelle wird bevorzugt. Ne ist der Staubsauger für Verschwörungstheorien.


Es gibt viele mögliche Erklärungen dafür, wie die Welt entstanden ist. Die Interessanteren gehen von einem Schöpfer aus. Intentionalität ist spannend, weil voluntaristisch, unvorhersehbar, überraschungsschwanger. Dharma ist für Denker. Die Intuition ahnt, dass da noch mehr dahinter steckt. Ne-user leben in Outer Limits, der unbekannten Dimension.


Was bloß möglich ist, ist für Ne bereits so gut wie wirklich, wenn es interessant ist. Ich glaube, weil es absurd ist, ist das Credo der Ne-user.


Warum Fragen stellen, wenn man Vermutungen anstellen kann? Alan Watts, ENFP (Ne dom), sagt, stellt euch vor, ihr alle seid Gott. Ihr habt unzählige Leben gelebt, und nun lebt ihr dieses. Und ihr selbst habt vorher entschieden, es so zu leben, dass ihr nicht wisst, dass ihr Gott seid. Stellt euch vor bedeutet für Ne-user: es ist so. Es sei denn, du stellst dir etwas noch Unglaublicheres vor.


Warum verstehen, wenn man vertrauen kann? Kierkegaard, most INFP philosopher ever (Ne aux), hält den Sprung von den Klippen der Ungewissheit ins Gottvertrauen für den entscheidenden Schritt. Darum geht es im Leben. Man muss es nur fühlen. Ich als intuitiver Denker fühle mich aber nur verarscht.


Doch zum Glück haben wir den Teufel, ENTP (Ne dom). Ja, alles ist möglich, sagt er, auch dass Gott böse ist. Oder dass es keinen Gott gibt. Aber wie kommt er darauf, zu denken? Mit Ti aux (introvertiertes Denken als zweite Funktion). Kant (Ti dom, Ne aux) stellt als INTP fest, dass auf Glauben grundsätzlich keine Weltanschauung gegründet werden kann. Glauben ist nicht wissen, weiß der Ti-user. Der Ne-user ohne Ti weiß es nicht.



*Meine Vermutung ist, dass eher die Denkfunktionen die Daten ordnen.


2. Das spekulative extravertierte Denken


Extravertiertes Denken ist das Werkzeug der Macher. Wer in der Welt wirken will, nutzt Te. Der General nutzt es, um zu siegen, der Ideologe, um die Welt zu erklären. Extravertierte Intuition (Ne) fabriziert Erzählungen, extravertiertes Denken (Te) Ideologien.


Was ist, philosophisch betrachtet, eine Ideologie? Eine logische Erzählung. Die Genesis ist eine kontingente Erzählung (so war es!), der dialektische Materialismus ist eine logische Erzählung (so ist es!). Ne erzählt von Ereignissen und Akteuren, Te von Sachzwängen und Strukturen.


Hegel, Marx, Lenin waren alle INTJs (Te aux): sie dachten extravertiert und wurden nicht von der Liebe zur Weisheit, sondern vom Willen, die Welt zu erklären, angetrieben. Hegel hatte wohl noch den Willen, die Welt zu verstehen, so wie Nietzsche, Sartre, und all die anderen Fi-user unter den INTJs. Marx und Lenin aber: nein, wozu verstehen, wenn man gleich erklären kann!


Wundersamerweise geht bei Hegel alles im Absoluten auf. Es ist ein den Ideen selbst äußerliches Ordnen, das deshalb willkürlich ist. Ideen haben ihre innere Ordnung. Das wusste Kant, das verkannte Hegel.


Der christliche Glaube wird bei Hegel zu einem Moment des absoluten Idealismus. Hegel greift Ideen, Stoff der Intuition, auf, und ordnet sie so, dass sie in ein widerspruchsfreies Ganzes passen. Aber sind diese Ideen auch jeweils in sich richtig? Wer fragt sich das schon? Etwa ein Proklos? Ein Thomas von Aquin? Ein Ken Wilber?


Wissen ist Macht. Nichts ist verführerischer für intuitive Denker als der Gedanke, alles zu wissen. Das absolute Wissen heißt auch das Schlusskapitel von Hegels brillantem Te-Meisterwerk, der Phänomenologie des Geistes. Doch gleich mein erster Eindruck war: Hegel weiß also alles, und ich stehe wieder vor dem Nichts.


Wenn die Welt so erklärt wird, dass alles in ein großes Ganzes passt, kann man sie mit Gott erklären, aber auch ohne. Und da hat Hegel (INTJ = ENTP shadow) Schattenarbeit geleistet: der absolute Idealismus schlägt in seinem Erklärbärwerk unvermittelt in einen absoluten Positivismus der Weltimmanenz um.



3. Das herdentriebige extravertierte Fühlen


Was andere glauben, ist mir egal. Aber der Glaube entsteht normalerweise durch den Herdentrieb, wobei normal ist, dass man keinen Fe trickster hat, und wenn, dann mit Si hero (Hauptfunktion introvertierte Sinnlichkeit) zusammen. Ein ISTJ versteht nicht wirklich soziale Normen, aber er hält sich an Regeln und Traditionen. So sehr ein sehr geschätzter ENTP (Fe child) darauf besteht, dass es wichtig ist, zu wissen, was andere glauben, und das zu respektieren, so sehr bin ich INTJ und sage nein.


Die Gemeinschaft der theistisch Gläubigen hat nichts moralisch, ethisch oder sonstwie praktisch-philosophisch Herausragendes vorzuweisen. Glaubenskriege, Antisemitismus, Missbrauchsskandale: all das war und ist durch die Gemeinschaft der extravertiert Fühlenden möglich. Die Kirche basiert auf dem Herdentrieb und der kognitiven Empathie. Mit affektiver Empathie (introvertiertes Fühlen, Fi) tun mir die Opfer ihrer unheiligen Eintracht leid.


Zwietracht lasset uns sähen, auf dass jeder selber denke! Anpassung an die Werte der Gruppe sichert das weltimmanente Überleben, ist aber kein Gütesiegel für welttranszendente Werte. Ob Jesus nur Gott oder nur Mensch, Gott und Mensch zugleich, leiblich Mensch und geistig Gott usw. gewesen ist, bleibt bedeutungslose Floskel, wenn es nach der herrschenden Meinung in Alexandria, Anitochia oder Rom geglaubt wird. Was glaubst du selber denn?


Und da zeigt sich, bei Licht betrachtet, dass sehr wenige Christen ihren tatsächlichen Glaubensinhalt definieren können. Vielmehr richtet sich dieser flexibel nach der Meinung der Gruppe. Gemeinsam ist allen, Jesus als den Erlöser anzunehmen. Aber ohne zu verstehen, was das bedeutet, bleibt das eine leere Floskel.




4. Die extravertiert-sinnliche Begierde


Sonnenschein ohne Sonnenbrand, Rauchen ohne Krebs, Saufen ohne Kater, Titten, Ärsche, immersteife Schwänze, nimmerschwangere Playmates, Quillaja-Honig, Konsensmilch, Wahrscheinlichkeitswolken aus Pfefferminzmarzipan der Geschmacksrichtung Schokokakaoschoko, wo gibt es das alles? Im Paradies! Und auf dieser Welt nicht? Doch, aber die Qualität ist bescheiden.


Der Wunsch, ins Paradies zu kommen, und ohne Einschränkungen durch Natur und Kultur nach Lust genießen zu können, ist der Vater vieler religiöser Gedanken. Durch extravertierte Sinnlichkeit (Se) nehmen wir Sinneseindrücke wahr, und die meisten sind unangenehm. Schmerz wird intensiver erlebt als Lust, Ekel intensiver als alles andere zusammen. Arbeit, Training, Körperpflege: was man nicht alles tun muss, bevor man genießen kann bzw. genießbar wird. Die schönen Momente sind aber dann überschaubar.


Der Gier nach Angenehmem folgt die Gier nach mehr. Auch der König ist nicht zufrieden. Er kann keine zehn Frauen am Tag, aber will können. Er kann keinen Eimer Wein trinken, würde aber gern das ganze Fass austrinken. Das Lustvolle wird schnell zur Selbstverständlichkeit und verliert den Reiz. Erst nach längerer Krankheit wird Gesundheit als ein positiver, nicht bloß normaler Zustand, empfunden.


Der Hedonismus ist durch die sinnliche Ausstattung des Menschen einprogrammiert. Wenige schaffen es, den Drang nach Lust so zu regulieren, dass das Leben nicht zum Frust wird. Die Vielen fressen den Frust unbefriedigter sinnlicher Wünsche in sich hinein und stauen diesen in der introvertierten Sinnlichkeit (Si). Der Kipppunkt von naiver zur theistischer Religion ist erreicht, wenn das Unbefriedigte durch das Leid der Frustration, um ebendiesem Leid einen Sinn zu geben, als verdient erscheint.



5. Die traumatisierte introvertierte Sinnlichkeit (il cuore del problema)

Die Anspielung auf die fünfte Staffel von La Piovra hat den Hintergrund, dass die Geschichte, die in diesen fünf Episoden erzählt wird, paradigmatisch für unsere Erfahrung mit der Erfahrung ist, genauer, mit unserem Speichermedium der Erfahrung, der introvertierten Sinnlichkeit (Si). Ein idealistischer junger Mann wird durch traumatisierende Erfahrungen in einem sehr kurzen Zeitraum zum kaltblütigen Mörder; ein Mensch, der aufgrund seines guten philanthropischen Charakters anfangs zur Mafia nicht passt, übertrifft sogar ihren größten Bösewicht am Ende an Bosheit. Er begeht allerdings nicht derart viele Gräuel, dass dem unsensiblen Zuschauer bewusst wird, welch eine krasse Wesensänderung bei ihm stattgefunden hat, aber dem Aufmerksamen entgeht es nicht.


Ich verstehe seine Erfahrung aus Erfahrung. Das ist meine Geschichte. Ein junger Mann mit vielen Hoffnungen wird durch eine heimtückische Sprachstörung (Stottern) ausgebremst, kommt mit seinen Mitmenschen nicht klar, weil er Autist ist (es aber nicht weiß), wird depressiv und findet schließlich zu Gott, wird ein Theist. Ein akzeptables Niveau an täglichem Leid kann weltimmanent verarbeitet werden, zu großes Leid oder zu viel davon staut sich auf, bis im Unbewussten bewusst wird, dass dieses Leid weltimmanent nicht mehr aufzuwiegen ist. Man fängt an, nach einem welttranszendenten Garanten der Glückseligkeit zu suchen, nach einer allmächtigen Person, die einem verspricht, die Bilanz wieder auszugleichen. Aus gespeichertem Leid entsteht eine Anspruchshaltung.


Zum Glück wurde ich nicht zum Mafia-Bösewicht, aber ich lebe auch nicht in einem Film. All die Jahre des Theismus verbrachte ich damit, mich selbst überzeugen zu wollen, dass es diesen transzendenten Garanten der Gerechtigkeit gibt, der die Leidleistung in Glückspunkten wieder zurückzahlt. Es war nicht von Anfang an so, dass ich an das Paradies mit den sprichwörtlichen 72 Jungfrauen dachte, im Gegenteil, ich war voller Hoffnung, als 16-jähriger Christ in dieser Welt das Glück zu erleben, dass das Erlittene ausgleichen sollte. Erst als das Leid sich verzinste und schneller wuchs als die Staatsschulden von Italien, wurde mir klar, dass kein Glück dieser Welt das bereits Erlittene wettmachen konnte. Das war mein "I want to believe"-Moment. Doch "Ich glaube daran, weil ich es mir wünsche" war angesichts intellektueller Selbstreflexion schon im jungen Alter zum Scheitern verurteilt. Ich verzweifelte. Und ich kündigte das christliche Opfer-Abo. Das war der richtige Weg.


Doch dann kam Sex. Erst mit 16 entwickelte ich echtes sexuelles Interesse, davor war ich sexuell ein Kind. Zur verspäteten Pubertät kamen heftige Verliebnisse, die die Romantik in den Vorder- und die Sexualität in den Hintergrund rückten. Kurz vor dem Abschied vom Christentum, als die Begeisterungsenergie der romantischen Liebe nach mehreren erfolglosen Verliebnissen verbraucht war, sprach die Sexualität ihr Wort. Ich hatte keine Ahnung, dass meine inferior function die extravtertierte Sinnlichkeit (Se) ist, und ich dadurch das Leidkonto ausschließlich sinnlich abgenießen kann. Ich lebte und litt weiter, anstatt den erlösenden Freitod zu wählen. Diese Entscheidung bereute ich immer mehr, doch andererseits wuchs auch das Leidkonto und damit die Ausgleichsansprüche. Ich tat ja nichts Böses, im Gegenteil, Gutes, und zwar, weil das meinem Wesen entsprach. Mein Fehler war aber, dass ich dafür belohnt werden wollte. Und dieser Fehler ist ein eingebauter psychologischer Fehler, der eben introvertierte Sinnlichkeit heißt.


Meine Vorstellung war nicht, mit echten Frauen echten Sex zu haben, sondern in einem virtuellen Simulator selbst ausgedachte Sexualsituationen auszukosten. Die Ansprüche an das Aussehen der sexuellen Genussobjekte wuchsen Jahr für Jahr, bis sie so perfekt waren, wie keine reale Frau jemals sein könnte. Doch wie konnte ich mir selbst versichern, auch tatsächlich jemals ausgezahlt zu werden? Dafür nutzte ich Religion und Moralphilosophie: die Moralphilosophie sollte das Gewünschte als das logisch Notwendige erscheinen lassen, die Religion mit der Güte Gottes dafür bürgen. Wenn es Gott gibt, wird mein Leidkonto ausgeglichen, denn ich leide ohne Schuld. Und ich entzog mich jeder Möglichkeit des Schuldigwerdens, um die Situation noch zu verschärfen. Wenn ich mein Paradies nicht bekomme, vernichtet Gott sich selbst, denn dann ist Gott nicht Gott, oder es gibt keinen Gott. Letzteres war immer mit der Anspielung verbunden, dass (mir) dann alles erlaubt sein würde: "die Welt pfänden", wenn ich meine Gerechtigkeit nicht bekomme, so meine Ausdrucksweise im Sommer 2006.


Was war ich für ein kranker Bastard? Mal checken. Posttraumatische Belastungsstörung? Check. Posttraumatische Verbitterungsstörung? Check. Narzisstisches Trauma? Check. Schwere Depression über Jahre hinweg? Check. Die Welt als Unwille und Alptraum, die Moral als Narzissmus, die Religion als KZ. Wer quälte mich denn all die Zeit? Heute weiß ich ja, dass ich der Welt und fast allen Menschen und Göttern angenehm egal bin, sie haben nichts gegen mich, sie werden aber auch von meinem Leid nicht fett. Aber die intovertierte Sinnlichkeit ist mein Dämon (Umkehrfunktion der vierten kogntiviten Funktion, der extravertierten Sinnlichkeit). Der Dämon ist der Kopf des Super-Ego, während die Hauptfunktion das Ego anführt: Ni hero bedeutet Si demon. Keine kognitive Funktion hängt so am Leben wie die introvertierte Sinnlichkeit. Darum war mir der Suizid verboten. Nicht von Gott oder der Gesellschaft oder der Moral, sondern aus dem tiefsten Abgrund meiner Psyche.


Jeder, der nicht nur Geiles erlebt, wird von der introvertierten Sinnlichkeit herausgefordert. Diese Funktion wehrt sich gegen schlechte Erfahrungen, was psychologisch sinnvoll ist, denn sie soll man ja nicht wiederholen. Doch bei zu viel Leid ohne Möglichkeit des Entkommens sammelt die introvertierte Sinnlichkeit das Erlittene wie eine Privatbank des Zorns, und wartet auf den Zahltag. Ist Si im Ego verankert, neigen Si hero und Si parent per default zur theistischen Religion, Si child und Si inferior verderben den Charakter und zerstören das Gute im Menschen. Ist Si im Schatten, verfolgen die schlechten Erfahrungen einen als Si nemesis, ziehen als Si critic runter, lassen als Si trickster immer wieder dieselben Fehler wiederholen (mit Tendenz zu Suchtverhalten), oder wollen sich als Si demon an der Welt rächen. Nur künstliche Hoffnung hält davon ab, und zwar durch den Zwangsglauben.


Da es sich um den Kern der theistischen Pathologie handelt, kann die Darstellung nicht kürzer ausfallen. Aber hier sind wir am Wendepunkt angekommen, die restlichen drei Funktionen sind nicht mehr Teil des Problems, sondern Teil der Lösung. Allen außer INTJs und INFJs ist als Heilmittel gegen Theismus Psychotherapie zu empfehlen, die beiden Charaktertypen mit der Arschkarte müssen da selber durch, weil der Dämon introvertierte Sinnlichkeit sich gegen die Auflösung seiner Lebenslügen so stark wehren wird, dass kein Therapeut dagegen ankommt. Den Theismus zu besiegen ist so schwer wie den Krebs zu besiegen; den Theismus sehe ich immer deutlicher als den Krebs des Geistes.


Kurz: Schlechte Erfahrungen werden gespeichert, die Psyche schreit nach Gerechtigekeit, nach Ausgleich, wenigstens nach Linderung. Erlebt sie aber weiter nichts als Schmerz, Schmerz, Schmerz, wird sie krank, und infiziert den Geist. Die Geisteskrankheit, der Glaube an einen Gott als Person, parasitiert auf dem natürlichen Bedürfnis nach Transzendenz. Mystik, das Streben nach Vervollkommnung und Heiligkeit, der Weg des Dharma: so reagiert ein gesunder Geist auf dieses Bedürfnis. Der kranke Geist hält krampfhaft an der Wahnidee eines menschenähnlichen Schöpfers des Universums fest, entmachtet sich selbst, verbietet sich jede Anstrengung (an sich sinnvoll: in der Krankheit braucht man Schonung), bis das Leidkonto ausgeglichen wird, lebt in einer Trotzhaltung gegenüber der Welt, und beraubt sich der einzigen Möglichkeit, dem Elend ein Ende zu setzen, wenn es unerträglich wird: des Suizids.



6. Die Aufrichtigkeit durch introvertiertes Fühlen

Das introvertierte Fühlen verweigert sich dem Theismus, es fühlt diesen nicht, kein Wunder bei diesem Gedankenkonstrukt. In meinem Fall ist Fi die Kindfunktion (Fi child) und wird von Te parent geschützt. Das extravertierte Denken denkt nach, aber es denkt nicht durch. Was ist für Fi child angesichts schrecklicher bisheriger Erfahrungen besser, dass es einen allmächtigen, guten und allwissenden Gott gibt oder nicht? Wäre nicht schlecht, wenn es den Garanten der Glückseligkeit als welttranszendente Persönlichkeit gäbe. Also sucht Te parent rationale Gründe dafür, dass es ihn gibt.


Zur Funktion des nicht Nach- sondern Durchdenkens, zum introvertierten Denken, steht das introvertierte Fühlen in jeder möglichen Anordnung der kognitiven Funktionen im Gegensatz: die beobachtenden und die wertenden Funktionen gleicher Direktion kämpfen gegeneinander. So kämpft Fi child gegen Ti critic den Kampf der Unschuld. Das Ergebnis sind Denkverbote für guten Zweck. Um auf die Funktion introvertiertes Denken zugreifen zu können, musste ich Schattenarbeit leisten (ENTP shadow).


Nach getaner Schattenarbeit stelle ich fest, dass das introvertierte Denken dem introvertierten Fühlen nicht die Hoffnung wegnehmen will, sondern nur die Illusionen. Die vier Kämpfe gegen uns selbst, die wir führen (hero vs demon, parent vs trickster, child vs critic, inferior vs nemesis), bringen uns um oder machen uns stärker. Hierfür ist der betreffende Spruch angemessen, nicht für äußere Ereignisse.


Das introvertierte Fühlen steht für das authentische Erleben. Diese unmittelbar wertende Funktion ist auch für die moralischen Werte zuständig (bei mir sind die ersten 3 von 6 nach Jonathan Haidt Reinheit, Freiheit und Gerechtigkeit). Weder habe ich jemals die Anwesenheit eines Gottes, wie ihn die Bibel beschreibt, gefühlt, noch stimmen meine persönlichen Werte mit den Werten theistischer Religionen überein (da wäre Autorität der höchste Wert in der Hierarchie).


Fühl, was du wirklich fühlst. Die Unfähigkeit zu fühlen oder ein Fühlverbot, das ist aus naheliegenden Gründen das Ziel theistischer Gehirnwäsche. So musste Kierkegaard (INFP = Fi hero) trotz Andersfühlens eine Enweder-Oder-Entscheidung treffen und entschied sich für den Sprung ins Ungewisse in die Arme des biblischen Gottes. Fühlte er Liebe? Nein, er fühlte Angst. Die Liebe Gottes als Furcht und Zittern.



7. Das logische introvertierte Denken

Als Te-user bin ich kein großer Denker. Dass ich dennoch Philosoph bin, und nicht zu knapp, hängt mit dem starken Willen zusammen: der klassischen Liebe zur Weisheit, sprich dem Willen zum Wissen/zur Wahrheit gesellen sich aber noch der Wille zur Macht (Nietzsche) und der Wille zum Wert (Weininger) hinzu. Durch extravertiertes Denken (Te) bin ich eigentlich ein Erklärbär, ein extensiver Konstrukteur, kein intensiver Forscher. Man gibt gern generös Schwächen zu, die einem selbst nicht wehtun; die den Charakter bestimmenden Schwächen versteckt man. Das tut weh: ich bin kein Ti-user, introvertiertes Denken (Ti) gehört nicht zu meinen Stärken.


Die großen paradigmatischen Leistungen von Ti sind Kants Philosophie und Einsteins Physik. Introvertierte intuitive Ti-user (insbesondere INTPs) sind die größten Denker, extravertierte intuitive Ti-user (vor allem ENTPs) die größten Erfinder. Die Relativitätstheorie ist so durchdacht, dass sie intuitiv überhaupt nicht zu verstehen ist, und nur wenige selbst durch reines, vom Vor-Urteil geschiedenes Denken, sie begreifen können. Es gibt nichts in der empirischen oder systematischen Erfahrung, das ein Vor-Verstehen (eine Intuition) der Relativitätstheorie ermöglicht. Intuition und extravertiertes Denken stehen vor verschlossenen Türen. Mathematik und theoretische Physik sind das Reich des introvertierten Denkens.


Kants Widerlegungen der Gottesbeweise sind paradigmatisch für Ti, der kosmologische und ontologische Gottesbeweis sind paradigmatisch für Te. Gott ist der Größte. Der existierende Gott ist größer als der bloß Gedachte, also muss Gott existieren. Wirklich? Existenz ist eine andere Kategorie als Größe, Güte, Allwissenheit oder Allmacht. Das schönste Einhorn ist nicht schöner, wenn es existiert, als wenn es bloß vorgestellt wird. Eine Milliarde Dollar, die man haben will, ist nicht weniger Geld, als eine Milliarde, die jemand tatsächlich hat.


Viele Menschen mit Ti-Schwäche sind für Kreationismus anfällig und unterschätzen die wissenschaftliche Methode. Weil sie die Evolutionstheorie nicht verstehen können, glauben sie diese mit geringsten Einwänden widerlegt. Wissenschaft ist denkintensiv, (theistische) Religion ist ein geistiges Energiesparprogramm.


Eine Immunisierungsstrategie gegen die logische Widerlegung der theistischen Gottesvorstellung ist die Betonung des Glaubens: Gott kannst du eh nicht denken, außerdem ist sein Verstand deinem überlegen. Du kannst entweder glauben und Jesus als deinen Erlöser annehmen oder nicht glauben und dich damit freiwillig für die ewige Verdammnis entscheiden. Das ist ein Spiel mit der Furcht, emotionale Erpressung. Doch genau dahin soll es ja gehen: wer emotional getriggert wird, kann nicht mehr klar denken.



8. Die introvertierte Intuition als Transzendenzfunktion

Das Bedürfnis nach Transzendenz ist natürlich; Selbsttranszendenz ist die Spitze der Bedürfnispyramide. Die Sinnlichkeit steht für Immanenz, das Fühlen für Hier und Jetzt, das Denken für interesseloses Wohlbetrachten. Die extravertierte Intuition (Ne) ist ein nach allen Seiten offenes Mindset, die introvertierte Intuition (Ni) ist der Wille zur Transzendenz.


Ni ist die geheimnisvollste der kognitiven Funktionen, deshalb ist der Geist eines INTJ oder INFJ das Gegenteil von einem offenen Buch. Das Wirken der introvertierten Intuition in der Kulturgeschichte zeigt sich in den Idealen des Wahren, Schönen und Guten, die von Willensmenschen aufgestellt und von Künstlern personifiziert dargestellt werden. Polytheismus, Mystik, schamanische und dharmische Vorstellungen vom Universum resultieren aus dem mit dem Willen potenzierten Bedürfnis nach Transzendenz.


Der Wille fokussiert die vitale Energie auf bestimmte Ziele, die immer außerhalb des Selbst liegen. Sie können sich äußerlich oder innerlich außer Reichweite des Egos befinden. Ob Welteroberung oder Selbstverwirklichung, alle Willensakte werden durch Ni vollbracht.


Die Psyche ist kein Automat aus unterschiedlich angeordneten kognitiven Funktionen, der Mensch ist keine Maschine. Das Ich, das alle kognitiven Akte begleitet, ist kein "ich denke", es ist ein "ich will", ein Selbstinteresse, ein Fokus der interessierten, nicht bloß beobachtenden Aufmerksamkeit. Das transzendentale Ich zum bloßen Beobachter zu degradieren, ist ein in den dharmischen Religionen, der Stoa und der Philosophie Schopenhauers gewählter Weg, der nur angefangen, aber nicht gegangen werden kann, weil er durch die Ausschaltung des Willens auch den Willen zerstört, ihn zu vollenden.


Das Nirwana ist nur als Asymptote denkbar. Wer dort ankommt, ist nicht mehr. Aber wozu die jahrelangen Übungen in Leerheits-Achtsamkeit und Lebensverachtung? Es geht auch einfacher mit dem Empiriker Epikur: wenn wir sind, ist der Tod nicht; wenn der Tod ist, sind wir nicht. Wenn das Nichts das Ziel ist, liegt nichts näher als der Suizid.


Das Ich, das auf dem Weg zur Vollkommenheit nicht weggekürzt werden kann, ist der innere Gott. Er ist der Schöpfer und Erhalter des Bewusstseins, er ist in jedem Bewusstsein für ebendieses allmächtig, gut und allwissend. Und da er der Träger des Willens zur Selbsttranszendenz ist, ist er auch Liebe. Deshalb ist die Mystik der theistischen Religionen wertvolles Kulturgut und keine politische Herrschaftsideologie.


Gott ist im Innern des Bewusstseins und ein Gegenstand der Mystik. Gerade die sinnliche Welt, der Kosmos, wird nicht göttlich regiert, sondern ist ein Spielplatz des Chaos und der Kontingenz. Das empirische Ich ist nun ein Teil dieser kontingenten empirischen Welt, kann aber nur durch seinen inneren Gott seiner Selbst bewusst werden. Der innere Gott ist außerhalb von Raum, Zeit und Kausalität. Er ist der mathematische Attraktor und das philosophische Ideal des Ich. Ich bin bedeutet: Gott ist, aber nicht der Gott der Theisten, sondern der Gott der Mystiker.

Donnerstag, 21. September 2023

Simulationshypothese und Erlösung

 

 

 

 

Die Simulationshypothese von David Chalmers (sowie Nick Bostrom und Elon Musk) gibt mir neue Hoffnung auf ein Ereignis, das ich bisher aus dem christlichen Kontext kannte: Gott wird alles ungeschehen machen.

Die Simulationshypothese geht wie folgt: Wenn es technisch überhaupt möglich ist, Wesen wie uns zu simulieren, dann ist unsere Welt wahrscheinlich eine Simulation, weil es dann mehr simulierte als nicht-simulierte Welten gibt. Wie man rechnet, berechnet und gerrymandert, die Wahrscheinlichkeit, in einer Simulation zu leben, beträgt über 99%.

Wir könnten die Arschkarte gezogen haben und in einer bösartigen Simulation leben, in der Spaßwelt eines narzisstischen Spielers (wie in der Black-Mirror-Folge USS Callister), der die Zeit, die Aufmerksamkeit und natürlich die Leiden selbst-bewusster Wesen genießt. Wahrscheinlicher wäre aber eine zu wissenschaftlichen Zwecken simulierte Welt. Dann würden, ohne dass jemand eingreift, Abermilliarden simulierter Welten in Quantencomputern der von uns aus gesehen Zukunftswelt laufen (wie im Deismus: Gott bzw. ein Demiurg hat unsere Welt erschaffen und sich zurückgezogen).

Wenn wir in einer simulierten, d. h. sekundären, tertiären usw. Realität leben, muss es die primäre Realität immer noch geben. Dann ist "unser Gott" (im technischen Sinne) nur ein Demiurg, aber in der wahren, echten Realität kann es dann immer noch den einzigen wahren Gott geben, das allgütige und allmächtige allerrealste Wesen. Und was, wenn der echte Gott (mithilfe von Demiurgen) uns in einer Simulation, die wir unsere Welt nennen, prüft, um zu entscheiden, ob wir (d. h. unsere Seelen) würdig sind, in der wahren Realität zu existieren?

Dieser Gedanke erscheint mir sehr plausibel, denn warum sollte Gott echte Wesen aus einer echten Welt dafür riskieren, um herauszufinden, ob wir gut oder böse sind? Wenn wir uns für das Böse entscheiden, können wir auch simulierte Angriffskriege gegen simulierte Länder anzetteln, simulierte Morde und Vegewaltigungen begehen, simulierte Menschen und Tiere foltern, und dann, für der wahren Welt nicht würdig befunden, wieder im Nichts verschwinden.

Ich würde das Ungeschehenmachen mit großer Freude begrüßen. Nicht, dass ich böse Taten zu bereuen hätte (meine Sünden sind alle letztlich lässlich gewesen), aber in meinem Leben ist einfach zu viel Müll passiert. Müll, für den ich nichts kann. Müll, der einfach hässlich ist. Müll, der widerlicher ist, als so manches Böse, das hätte geschehen können. Das Ästhetisch-Böse verabscheue ich mehr als das Moralisch-Böse, und mir ist einfach zu viel davon passiert. Mich ekelt der Gedanke, mich im nächsten Leben an dieses Leben erinnern zu können. Und so funktioniert für mich die Synthese aus der traditionellen religiösen Vorstellung des Ungeschehenmachens und der ultramodernen Simulationshypothese durchaus.

Freitag, 21. April 2023

Narzissmus

 


 Aus Erfahrung mit Narzissten


Hier werde ich keine Theorien über das Wesen des Narzissmus aufstellen, sondern meine Erfahrungen mit Narzissten analysieren. Wenn ich "Der Narzisst" sage, so ist nicht immer derselbe, aber immer ein bestimmter Narzisst gemeint, den ich tatsächlich kenne.

Grundlegend scheint mir, was Narzissten angeht, die ich kennengelernt habe (nicht die, mit denen ich aufgewachsen bin, und denen ich mich nicht entziehen konnte) das Paradigma der Falle zu sein: als ein Mensch mit Empathie spürst du intuitiv, dass in der Psyche des Narzissten ein Kind ist, das verzweifelt nach Hilfe schreit. Gehst du aber darauf ein und lässt deine emotionale Verteidigung fallen, schnappt die Falle zu: nun beginnt der Transfer von Emotionen. Dir wird Freude, Heiterkeit, Lustfähigkeit usw. entzogen, und du bekommst Gefühle, die zu empfinden du gar keinen Grund hast: Hoffnungslosigkeit, Bitterkeit, Angst, Trauer, Verzweiflung, Selbsthass.

Der Zweck der Falle besteht darin, dass der Narzisst seinen Helfer/Wohltäter in seiner inneren Welt einsperrt, und die Außenwelt emotional von ihm abschrimt. So erfuhr ich das seltsame Gefühl, auf einmal alles nur aus der Perspektive des Narzissten und in Bezug auf den Narzissten sehen zu können, als wäre der Narzisst der Mittelpunkt meiner Welt.



Die Hilfe, die er will


Narzissten fragen nicht offen, aber subtil nach Hilfe. Sie nötigen dich, zu helfen, anstatt um Hilfe zu bitten. Du hast keine Wahl, als zu helfen. Oder du bist ein schlechter Mensch. Schon hier hätte ich jede weitere Konversation abbrechen sollen, denn sofort nach der Senkung meines emotionalen Alltagsschutzschilds wurde ich erfolgreich manipuliert. Aber in weiteren ähnlichen Situationen konnte ich nicht aufhören, gleichgültig mit den Schultern zu zucken, wenn ich mich als schlechter Mensch hätte fühlen sollen.

Narzissten wollen deine Hilfe. Sie suchen sie aktiv, aber auf passiv-aggressive Art. Und aus Erfahrung sage ich: Narzissten wollen nicht die Hilfe, die sie brauchen. Also: Niemlas helfen! Das muss der Grundsatz gegenüber Narzissten sein. Professionelle Hilfe kann nur ein qualifizierter Psychotherapeut leisten, und das ist die Hilfe, die sie brauchen.

Und das ist die Hilfe, die sie wollen: Sie wollen auf deine Schultern steigen, damit sie jemanden haben, der unter ihnen steht. Der Narzisst braucht deine Hilfe, um dich emotional misshandeln zu können, und diese Hilfe besteht in deiner Empathie und Güte. Hast du dich darauf eingelassen, dem Narzissten helfen zu wollen, kannst du den Prozess nicht in der Mitte abbrechen, und sobald du genau das empfindest, hat er schon die Hilfe, die er von dir wollte.

Der Narzisst ist ein erbärmliches Häufchen Elend, und er sucht verzweifelt nach jemanden, den er in seiner inneren Hackordnung unter sich selbst stellen kann. Deine Güte interpretiert er dann als Schwäche, deine Empathie als Interesse an seiner Person oder Verliebtheit oder Begehren. Mit materieller Hilfe erkaufst du doch bloß seine wertvolle Zeit und Aufmerksamkeit. Wer sich mit Narzissten einlässt, muss sich auf Verdrehungen der Tatsachen einstellen, zu denen nicht die perfideste Lügenpresse in der Lage wäre.



"Scheiße erlebt"


Ja, der Narzisst hat viel "Scheiße" erlebt. Sonst hätte er auch keine Narzisstische Persönlichkeitsstörung (NPD) entwickelt. Und diese ist bei vielen Narzissten so deutlich ausgeprägt, dass es oft keine Diagnose, sondern nur Erfahrung und Intuition braucht, um festzustellen, dass jemand ein Narzisst ist. Die NPD unterscheidet sich grundlegend von den meisten anderen psychischen Krankheiten und Persönlichkeitsstörungen. Ich werde hier nicht darüber spekulieren, worin dieser Unterschied liegt, da lasse ich mich lieber von echten Experten auf dem Gebiet belehren (z. B. Sam Vaknin), aber ich kann aus Erfahrung sagen, dass Narzissmus etwas grundsätzlich anderes ist als etwa Soziopathie oder Autismus (Persönlichkeitsstörungen) bzw. Posttraumatische Belastungs- und Verbitterungsstörung oder Depression (psychische Krankheiten).

Dass der Narzisst "Scheiße erlebt" hat, gibt ihm aus seiner Perspektive das Recht, sich wie ein Arschloch zu verhalten. Dass andere vielleicht noch mehr "Scheiße" erlebt haben, zählt für ihn nicht. Wenn sie daraus gelernt und sich weiterentwickelt haben, umso schlimmer für sie. Dann war es halt nicht so schlimm, oder sie lügen, oder sie übertreiben. Selbst wenn nicht: die "Scheiße", die andere erlebt haben, ist dem Narzissten scheißegal. Nicht als Person mit eigenen Erfahrungen wahrgenommen zu werden ist das Gefühl, das ich vom Umgang mit allen Narzissten kenne. Bestenfalls gibt es vom leidenden Christus ein mitleidiges Schulterklopfen für einen unbedeutenden Statisten, der sein eigenes Leid nur erlebt hat, um begreifen zu können, wie schwer das Leid des Narzissten sein muss.



"Selber Narzisst!"


Zunächst versucht der sprichwörtliche Teufel dir einzureden, es gäbe keinen Teufel. Wenn es ihm nicht gelingt, dann sagt er: "Du bist der Teufel!"

Der mit seinem Wesen und dessen Erscheinung (Verhalten) konfrontierte Narzisst wird zunächst behaupten, "Narzisst" sei bloß ein Schimpfwort und weiter nichts. Wenn du darauf bestehst, dass das Wort "Narzisst" eine bestimmte Bedeutung hat, und diese klar genug ausdrückst, dann wird er sagen: "Du bist der Narzisst!"



The creepiest thing


"Keiner da", das war das Creepieste, was ich mit einem Narzissten erleben durfte. Nicht bloß, dass der Narzisst nicht zuhört, oder nicht darauf eingeht, was du sagst: das wäre alles menschlich. Aber das Gefühl, dass da wirklich keiner da ist, ist unbeschreiblich creepy. Du redest sehr lange mit einer Person und stellst dann fest: es ist eigentlich gar keiner da. Mit wem habe ich die ganze Zeit geredet?

Damit hängt auch das Gefühl zusammen, dass da weder Männlein noch Weiblein, weder ein junger noch ein alter Mensch vor einem steht, sondern eine simulierte Person, die eigentlich überhaupt keine Identität hat.



Inception


Es gibt 1000 und mehr Gründe, einen Suizid zu begehen. Aber aus Schuldgefühlen gegenüber einem Narzissten, das muss wirklich nicht sein. Nur, wenn du als Kind einem erwachsenen Narzissten ausgesetzt bist (etwa: Großvater, Vater, Mutter usw.), führen sie mit deiner kindlichen Psyche eine Art Inception durch: die pflanzen dir Gedanken und Gefühle ein, die nichts mit dir zu tun haben.

So fühlt sich ein moralisch exzellent entwickeltes Kind schuldig, ein für sein Alter erfolgreiches Kind fühlt sich wie ein Versager (weil in Tiflis ein 11-Jähriger schon Abitur gemacht hat und mit dem Mathematik-Studium anfängt), ein gesundes und vitales Kind fühlt sich wie ein Schwächling, weil dem Vater ein großgewachsener, grober, bauernschultriger Sohn lieber wäre.

Aber es ist auch ein Fehler, einen überfälligen Suizid nicht zu begehen, weil einer der über 1000 Gründe nicht dein eigener ist. Das Zwangsamlebenbleiben kann dazu führen, dass man selbst eine narzisstische Persönlichkeitsstörung entwickelt. Das Leben sollte kein Zwang sein. Darum ist es wichtig, darüber nachzudenken, welche Gründe für die Kündigung des Telefonvertrags mit der Bezeichnung "Leben" deine eigenen sind, und welche dir heimlich eingeredet wurden, als du noch keine emotionale Firewall hattest.



Abwertung


Als ich als Teenager mit erwachsenen Narzissten zu tun hatte, fiel mir ein besttimmes Verhaltensmuster auf: immer wenn ich etwas Positives von mir selbst berichtete (Erlebnis, Gefühl, Tat, Handlung, Erfahrung), wurde das Berichtete relativiert, und zwar immer nur in eine Richtung. Es wurde abgewertet. Ich vermutete eine pädagogische Maßnahme dahinter (ich sollte nicht zu viel von mir selbst halten) oder einfach eine andere Perspektive durch größere Lebenserfahrung des erwachsenen Gesprächspartners.

Aber nein. Als Erwachsener stellte ich bei gleichaltrigen und jüngeren Narzissten genau dasselbe Verhaltensmuster fest. Sie ertragen es einfach nicht, etwas Positives zu hören, das nichts mit ihnen selbst zu tun hat. Nur insofern sie offen oder heimlich einen Bezug zu sich selbst spüren, können sie sich mitfreuen oder eine gute Tat würdigen.

Eine eigene emotionale Welt, die vital und optimistisch ist, können Narzissten bei anderen Menschen nicht ertragen. Sie sind neidisch auf Lebensfreude. Sie gönnen dir keine guten Charaktereigenschaften und keine guten Erfahrungen: Du hast es doch nur getan, um dich als besserer Mensch zu fühlen! Sie mag dich nicht, du hast bloß etwas falsch verstanden! Gut, dass du trainierst, aber freu dich nicht zu früh, am Anfang ist man immer euphorisch, aber nach zweidrei Monaten hören die Meisten auf!

Es darf einfach nicht sein, dass es dir gut geht. Es sei denn, der Narzisst veranlasst es so. Er will die einzige Quelle des Positiven für dich sein. Er will am North Stream deiner Lebensenergie sitzen, und den Hahn zu- und aufdrehen, wie er Lust hat.



Covert Contracts


Um gute Freunde zu haben, musst du selbst ein guter Freund sein: als ich diesen Spruch zum ersten Mal las, musste ich lächeln, denn ich war immer ein guter Freund. Ich war offen und ehrlich, kritisierte konstruktiv und nahm Kritik an, tat viel für meine Freunde und habe mich, wie gesagt, als ein guter Freund erwiesen.

Und das war ein Fehler bei jedem Narzissten, mit dem ich befreundet war. Der Fehler war natürlich, dass ich überhaupt mit Narzissten befreundet war. Aber das merkt man am Anfang ja nicht. Und oft merkt man es lange Zeit nicht, weil man entweder narzisstisches Verhalten überhaupt nicht kennt oder diesem als Kind permanent ausgesetzt war, sodass man es für normal hält.

Narzissten haben keine echten menschlichen Beziehungen, sie machen sich ein Bild von dir, und beziehen sich dann auf dieses Bild in ihrem Kopf. Und diesem Bild musst du fortan entsprechen. Du darfst dich nicht weiterentwickeln, du darfst dich nicht ändern. Das überfordert den Narzissten, und mehr noch: er fühlt sich verraten.

Und wenn du feststellen musst, dass du loyal zu einer Weltanschauung oder einer imaginären Wir-Gruppe hättest sein müssen, die nur er im Kopf hatte, und über die er nicht einmal mit dir gesprochen hat, dann stellst du fest, was Narzissten tun: sie schließen covert contracts mit dir. Das sind unausgesprochene Abmachungen, die dir intuitiv klar sein müssen, als könnest du seine Gedanken lesen. Aber der Mensch, auf den sich der Narzisst bezieht, bist nicht du, sondern das Bild von dir in seinem Kopf. Und da "du" in seinem Kopf bist, musst du immer wissen, was er denkt, was er will, und was er von dir erwartet.

Menschen ändern sich, und nicht nur zum Schlechteren. Manche entwickeln sich sogar. Für den Narzissten unfassbar! Es gibt den Stillstand oder den Tod. Das Leben ist für den Narzissten ein Feind.

Freunde können unterschiedlicher Meinung sein. Ich habe dreifach Geimpfte und Impfgegner in meinem Freundeskreis. Und es war selbst in der heißesten Phase der Spaltung der Gesellschaft in der Impffrage kein Problem.



Therapieren oder töten?


Widerliches Pack von der gleichen Sorte rottet sich oft zusammen, und so hat einer, der aus Erfahrung von einem Hobbesschen Menschenbild ausgeht, womöglich die Erfahrung gemacht, in seiner Kindheit und Jugend von Narzissten und/oder Soziopathen umgeben gewesen zu sein. Und er denkt: Es gibt kein Leben in Harmonie und gegenseitigem Respekt. Menschen kannst du nur durch Gewaltandrohung beherrschen, oder sie werden dich quälen, ausbeuten und ausnutzen. Menschen sind nicht nur wie Tiere, Menschen sind schlimmer als Tiere.

Meine Erfahrung ist: Sobald der Narzisst in einer mächtigeren Position ist, wird er aus jeder Situation das größtmögliche Leid für dich herausholen. Ein Problem, das normalerweise mit einem für beide zufriedenstellenden Kompromiss lösbar wäre, wird so gelöst, dass du unnötig leiden musst. Entscheidet der Narzisst über die Verteilung von Lasten in einer Situation, so entscheidet er nicht wie ein typischer Egoist (etwa 80% für dich und 20% für sich selbst), sondern er gibt dir 100% der Last und setzt sich selbst auf die Last noch drauf (indem er versucht, dir Schuldgefühle zu machen usw.)

Mein Problem ist: ich habe einfach zu viele dieser widerwärtigen abartigen niederträchtigen Scheusale kennengelernt, oder aber zu wenige gute Menschen. Darum tendiere ich eher zu einer eliminatorischen Lösung des Narzisstenproblems. In einer Gesellschaft, in der Narzissten und Soziopathen nicht vogelfrei sind, will ich keine Familie gründen. Das Untermenschen-Pack, sagt meine Prinzessin Amygdala, muss nachhaltig aus jeder, selbst der kleinsten, Machtposition nachhaltig entfernt werden.

Meine Einsicht ist: Narzissten sind misshandelte Kinder, die sich nie aus dem Kindesalter heraus entwickelt haben. Sie leben in Angst und Verzweiflung, und daran ändert auch das grandiose Selbstbild nicht: auch dann nicht, wenn es durchaus nicht kompensatorisch für Minderwertigkeit steht, sondern in grenzenloser Selbstbewunderung sich selbst geglaubt wird. Sie sind psychisch so kaputt, dass sie im Grunde nicht anders können, als Liebe erzwingen und menschliche Beziehungen erpressen zu wollen, als jede Machtposition auszunutzen, um ihrer permanent empfundenen Ohnmacht zu entkommen. Als Erwachsener kann ich da nur Mitleid empfinden; dass das innere Kind sich selbst rückwirkend und alle anderen Kinder präemptiv schützen will, ist (selbst-)verständlich.



Solipsismus


Kommunikation mit Narzissten ist frustrierend. Mal ist "keiner da", mal redest du zu der Wand, mal redet nur der Narzisst, und du bist nur Publikum: er reagiert nicht darauf, was du antwortest, er will nur in deiner Anwesenheit sich selbst zuhören. Das ist wohl die Schlüsselerfahrung, um Narzissmus zu verstehen.

Der Narzisst lebt nicht in der Realität. Er lebt in seinem eigenen Film, und er braucht immer wieder Publikum, um diesen Film abzuspielen. Du kannst dich ihm gegenüber verhalten, wie du willst, er hat aber schon eine Rolle für dich, und weiß auch schon, wie der Film endet. Er kommuniziert nicht, er interagiert nicht: er ist stets nur mit sich selbst beschäftigt, aber zugleich abhängig von der Aufmerksamkeit und der emotionalen Reaktion anderer.

Der Narzisst zieht dich aus der Realität in seinen Film. Da er nicht selbst in der Realität lebt, braucht er deine Realität: du bist der kontrollierte Einbruch des Realen, den er braucht, damit er neue emotionale Energie bekommt. Gehst du aber davon aus, dass der Narzisst, wie du, in der Realität lebt, kommst du, ausgehend von seinen Reaktionen auf dein (egal welches) Verhalten, aus dem Grübeln nicht mehr heraus: "Was mache ich bloß immer falsch?" Du verweigerst dich seiner Illusion, das ist alles. Erst wenn dich das narzisstische Schwarze Loch hinter seinen Ereignishorizont gezogen hat, hört die kognitive Dissonanz auf.



Spätpubertärer Narzissmus


Spätpubertät. Die junge Frau hat, wie jeder, gute und schlechte Charaktereigenschaften. Welche sie weiterentwickelt, kann sie größtenteils selbst entscheiden. Sind es Entscheidungen wie diese, die in einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung enden werden?:

• Ich behandle meine Freunde wie Fans.
• Ich kann auf die Anderen eingehen, muss aber nicht: auch wenn ich nur über mich selbst rede, hört immer irgendeiner zu.
• Ich bestehe auf meinem Anspruch, mich immer wohl zu fühlen; Kritik muss ich mir nicht anhören.
• Wenn ich doch Kritik annehme, dann übertreibe und verabsolutiere ich sie, bis mein Selbstmitleid den Kritiker dazu zwingt, Kritik zu relativieren und durch Lob wiedergutzumachen.
• Ich nehme die Anderen für selbstverständlich, mich selbst halte ich für etwas Besonderes.
• Was andere für mich tun, das schulden sie mir, weil ich sie mit meiner Anwesenheit beglücke.
• Nur meine Gefühle sind wichtig.
• Ich bin gut, weil ich in jedem das Gute sehe. Andere müssen dafür dankbar sein und mir Gutes tun.
• Ich bin wie ich bin, andere müssen damit klarkommen. Andere haben aber die Wahl, wie sie handeln, und ich habe das Recht, sie für ihre Entscheidungen zu verurteilen.
• Ich habe das Recht, zu wissen, woran ich bei dir bin. Ich bin aber so, dass du nie weiß, woran du bei mir bist, so bin ich halt.
• Ich weiß, dass ich meine Freunde immer wieder verletze. Das ist aber nicht meine Absicht, darum ist es unfair, mich zu verlassen.
• Ich bin authentisch; wer etwas an mir nicht mag, will mich ändern, und das ist anmaßend. Ich habe mit meinem Freund Schluss gemacht, weil er sich nicht ändern wollte.
• Ich bin nunmal schlecht im Kontakthalten. Andere müssen mir nachlaufen.
• Ich kann durchaus empathisch sein. Wenn jemand kurz davor ist, mir die Freundschaft zu kündigen, dann beginne ich ausnahmsweise, ihn als Person wahrzunehmen.
• Ich gebe nur so viel Empathie zurück, wie nötig ist, um eine menschliche Beziehung gerade noch aufrechtzuerhalten.
• Ich mache keine Fehler, ich sammle Erfahrungen.




Narzissmus beim Ausgehen



Grandiose narcissism: Alles dreht sich nur um dich.


Covert narcissism: Alles dreht sich nur um deine Probleme.


Communal narcissism: Du bist zu allen nett, nur nicht zu deinem Begleiter.